Die düstere Märchenstunde: Lost Boy

Buch: Lost Boy
Autor: Christina Henry
Verlag: Titan Books
Gebundenes Buch: 318 Seiten
Sprache: Englisch

CW: Child Death, Spinnen

„Lost Boy“ ist eines der weiteren Nacherzählungen von Christina Henry und ist das fiktive Retelling der Geschichte von Peter Pan. Nur aus der Sicht von Captain Hook oder eher „Jamie“, wie er einst hieß. Neben Arielle ist Peter Pan für mich eines der interessantesten Geschichten gewesen, besonders nach dem ich das Buch von Christina Henry gelesen hatte, die eine starke, spannende und unfassbar schreckliche Variante in „Lost Boy“ erzählt, die mich immer gefangen genommen hat und noch heute – Monate nachdem ich es gelesen habe – emotional ziemlich zerstört.

Die Handlung

Jamie lebt bereits seit Jahren in Nimmerland. Er ist der erste Junge gewesen, den Peter dorthin gebracht hat und der am längsten bei ihm lebt und Abenteuer erlebt.

Immer wieder, wenn Peter seine Spielgefährten ausgehen – beim Klettern, beim Jagen und Bekämpfen der Piraten, auf der Flucht vor den Many-Eyed – holt er sich neue aus der Stadt und verspricht ihnen, dass sie bei ihm niemals erwachsen werden müssen und Spaß für immer haben werden. Nur dass das nicht die komplette Wahrheit ist.

Denn ja, die Jungs haben Spaß, wenn sie gegen die Piraten kämpfen, auf Bäume klettern und Essen suchen, aber befinden sich auf der verzauberten Insel jeden Tag in tödlicher Gefahr. Denn die Piraten haben keine Angst, die Kinder zu töten, die Many-Eyed warten auf eine gute Gelegenheit, sie zu fressen und Kinder, die allein in der Wildnis leben, können nicht auf Genesung bei Krankheit oder Verletzung hoffen. Und immer wieder sterben Peters „Gefährten“ wie die Fliegen, sodass er immer wieder neue braucht.

Jamie, der Peter so unendlich liebt, sieht immer wieder die Jungs sterben. Und begräbt sie. Und kümmert sich um sie, wenn sie verletzt sind. Und passt auf sie auf und kann irgendwann diese Wutgefühle für Peter nicht mehr unterdrücken. Erst recht nicht als Peter den kleinen Charlie auf die Insel bringt, der gerade erst fünf ist.

Und während Peter weiter Spaß und Abenteuer will, wird für Jamie unübersehbar, mit wem er sein Leben verbracht hat und dass er und die anderen nicht mehr auf der Insel bleiben können. Vorausgesetzt, sie überleben das.

Meine Meinung

Ich hab das Glück den Vergleich mit „Alice“ zu haben, eines der wirklich heftigen Bücher von Christina Henry, das für mich damals auch sehr hart gewesen ist. Lost Boy steht diesem in kaum etwas nach, wenn auch auf einer emotional anderen Ebene.

Im Zusammenhang mit dem Buch wird oft „Der Herr der Fliegen“ herangezogen, das ich selber nicht gelesen habe, das von der Inhaltsangabe aber ähnlich heftig klingt. In Lost Boy haben wir es mit einer ahnungslosen Gruppe Kinder zu tun, die zwischen zehn und vierzehn sind. Alles was sie suchen, ist Spaß, Freiheit und bloß keine Erwachsenen. Was für sie lustig und spaßig klingt, ist bitterer Ernst, was das Buch oft sehr schmerzhaft gemacht hat, da man den Kindern dabei zusieht, wie sie in ihr Verderben laufen.

Abgesehen blieb trotzdem sehr oft offen, wen es erwischen wird, ob es nochmal jemanden erwischen wird und wie weiter Verfahren wird. Das Buch war sehr charaktergetrieben, weswegen ich immer darauf gewartet habe, welche Wünsche Peter äußern wird, beziehungsweise welche Geheimnisse über ihn sich herausstellen würden (denn von diesen gab es doch mehr als Jamie sich anfangs vorstellen konnte). Vor allem aber war ein beträchtlicher Teil der Spannung der Kontrast zwischen Peter, dem alles so egal war außer Spaß, und Jamie, der die Gruppe beschützen und die Jungen zusammenhalten wollte, weswegen beide immer wieder in Konflikte gerieten. Womit wir schon beim Thema Charaktere wären, das für dieses Buch so immens wichtig ist.

Abgesehen blieb trotzdem sehr oft offen, wen es erwischen wird, ob es nochmal jemanden erwischen wird und wie weiter Verfahren wird. Das Buch war sehr charaktergetrieben, weswegen ich immer darauf gewartet habe, welche Wünsche Peter äußern wird, beziehungsweise welche Geheimnisse über ihn sich herausstellen würden (denn von diesen gab es doch mehr als Jamie sich anfangs vorstellen konnte). Vor allem aber war ein beträchtlicher Teil der Spannung der Kontrast zwischen Peter, dem alles so egal war außer Spaß, und Jamie, der die Gruppe beschützen und die Jungen zusammenhalten wollte, weswegen beide immer wieder in Konflikte gerieten. Womit wir schon beim Thema Charaktere wären, das für dieses Buch so immens wichtig ist.

Jamie

Es gibt wenige Figuren, mit denen ich mich so identifiziere wie mit Jamie während der Geschichte.

Als das Buch beginnt, ist seine Beziehung zu Peter bereits abgekühlt. Immer wieder überkommt ihn diese Wut auf Peter, der so rücksichtslos ist, manche Morgen wacht er auf und bemerkt, dass er gewachsen ist – dass er doch altert, gegen seinen Willen. Und bereits zu Beginn ist Jamie im Begriff zu verstehen, dass Peter nicht der Junge ist, der er dachte.

Auch wenn Jamie das zunehmend nicht mehr leugnen kann, verschiebt er es doch; manchmal blitzt der Peter auf, mit dem er früher unterwegs war und der mit ihm Abenteuer erlebt hat. Und er will ihn lieben wie früher.

Das jedoch klingt ab, da Jamie immer wieder zusehen muss, wie die Jungen, die Peter bringt wie Marionetten von ihm ausgenutzt werden, um Spaß zu haben. Jamie selbst ist im Buch erst 13 oder 14, erscheint während des Lesens aber als eine sehr gereifte, ältere Person, was ihn sehr zugänglich gemacht hat und nur logisch erscheint – wenn wieder eines der Jungen stirbt, geht Peter sich neue suchen, während Jamie sie begräbt.

Er ist auch derjenige, der alle zusammenhält und deswegen mehr oder minder als „Anführer“ der Gruppe gilt, sie beschützt und auf sie aufpasst, wenn Peter es nicht tut. Was für mich sehr spannend zu sehen – und später auch betätigt wurde – ist, dass die Jungen anfangen, Jamie zu lieben, obwohl sie Spaß mit Peter haben. So ist Jamie am Ende des Tages der, zu dem sie zurückgehen und der auf sie aufpasst und tröstet, wenn wieder etwas Schreckliches passiert.

Damit entsteht in der Not der Geschichte eine Art Familie, vor allem zwischen Charlie und Jamie. Besonders für Charlie fühlt er sich von Anfang an verantwortlich und will ich vor den Gefahren schützen, vor denen er sich selbst nicht schützen kann und vor denen Peter ihn erst recht nicht beschützen kann.

Besonders, als es um Charlie geht, wacht Jamie dann auf, und das war großartig zu lesen: Das Coming of Age, wo der Glaube in Peter zerfällt und Jamie nun jeden Tag ein bisschen altert. Während er sich früher alles gefallen ließ, widerspricht er Peter jetzt, gehorcht ihm nicht und macht aktiv Gegenpläne um die Jungs zu schützen. Im gleichen Zug entwickeln sich die Figuren außenherum, die jetzt auch ihn beschützen wollen – ihre Familie, oder das, was ose eben sind.

Jamie war für mich, trotz jungen Jahre, eine unfassbar gelungene, gute Figur, wie es kaum Bücher hervorbringen. Er war so fassbar, so echt, dass es wehtat, aber großartig war, weil man seine Schritte nachvollziehen und ihn verstehen konnte.

»Peter should look after us«, he said, and I’d never heard him so fierce. »He’s the one who brings us here. He’s the one who says we’ll have adventures and be happy forever.«
[…]
»Peter has a mind to play«, I said. »So I’m here to look after you all.«
»We’ll help you bury them,« Sal said suddenly.
»I don’t want Charlie to-«
»To see. You said,« Sal said. »But you can’t keep him small forever. He’s got to learn to survive here and so do I. And you can’t always be alone, Jamie.«

Peter

Über Peter hatte ich anfangs sehr gemischte Gefühle. Ja, er ist ein Kind, ja er ist absolut auf sich selbst fokussiert und interessiert sich nicht für die Schwachen. Aber zu Beginn sieht Jamie noch so viel Gutes in ihm, will noch so viel Gutes sehen, dass ich auch nicht anders konnte und hoffte, dass da noch mehr in Peter war. Allerdings – und das zeigte sich dann relativ schnell im Buch – lagen Jamie und ich da beide falsch.

Für mich als Lesende ging der Prozess vom verkennen Peters schneller als der von Jamie. Was nicht schlimm war, weil es Jamie dieses Klammern an Erinnerungen gegeben hat, die ich nur nachvollziehbar fand. Denn in diesem Prozess des Verkennens zeigte sich, wie eigensinnig und grausam Peter wirklich ist und dass es naiv war, ihn darin zu unterschätzen. Denn auch wenn er so gut erscheint, ist er von vorn bis hinten durchgeplant, versucht immer wieder Charlie in Gefahr zu bringen, um Jamie und ihn zu trennen und Jamie zurückzubekommen und zeigt darin auch kein bedauern.

Was interessant war – hier bin ich noch unentschlossen -, ist, dass Peter nicht dazugelernt hat oder nur kaum. Für ihn war kaum nachvollziehbar, warum Jamie ihn eines Tages nicht mehr geliebt hat oder die Dinge sich zwischen ihnen änderte. Wo sie doch immer Spaß hatten und alles aufregend war. Eine These hier ist, dass Peter nicht reift, immerhin altert er auch nicht und kann nicht altern, womit ihm auch geistiges Altern verwehrt bleibt, um sein inneres Kind zu erhalten. Die andere wäre deutlich emotionaler, dass er nicht in der Lage ist zu verstehen, dass jemand aufhören kann, ihn zu lieben, weil er sich sowieso keiner Fehler bewusst ist. Beides zeichnet ihn auf diesem Gedankengang sehr statisch; was für mich eher interessant als negativ ist, da es in das Bild des desinteressierten, grausamen Kindes passt, dem nur er selbst und Spaß am wichtigsten ist.

Insgesamt hat ihn das zu einem großartigen Bösewicht gemacht, weil Jamie und er in einer spannenden, schrecklichen Wechselbeziehung standen, in der sie einander mal geliebt hatten, sich aber nicht mehr wiedererkannten. Peter blieb über das Buch hinweg unberechenbar und das war großartig.

Then he smiled, and oh, that smile. It was that smile that had stolen me away from the Other Place, the smile, that made me want to do anything for him.

Die anderen Kinder

Es war anstrengend. Es war anstrengend, wie sich die Kinder sinnlos gerauft haben, wie sie geschrien haben und gegen Jamie, die Hauptfigur, die längst ausgebrannt durch Tod und Abenteuer ist, herumrannten, sich auf Raids freuten und mit Peter rumhängen und ihn beeindrucken wollten. Während viele für mich am Anfang blass erschienen und austauschbar, entblätterte das Buch jedoch zunehmend ihre Persönlichkeiten, ihre Ängste und Gedanken, dass sie ebenfalls trauerten und eben manchmal auch wütend waren. Besonders die Zwillinge Fog und Nod, die ich am Anfang extrem anstrengend fand, entfalteten sich später und wurden interessante Figuren mit lebhaftem Inneren.

Charlie

Charlie ist die Person, die für Jamie alles ändert. Charlie wird zwar von Peter geholt, sucht aber von Beginn an Schutz bei Jamie, der der Einzige ist, der sich tatsächlich auch um ihn kümmert. Er ist viel zu jung und widerspricht damit allen Regeln, die Jamie und Peter ausgemacht haben, über die Jungs, die er dorthin holt. Ich lese selten Bücher mit kleinen Kindern, aber Charlie war echt, hatte Angst, brauchte jemandem, der für ihn da ist und konnte sich kaum um sich selbst kümmern – was bei Fünfjährigen nicht überraschend ist. Besonders heftig für mich war, wie Charlie von Peter immer instrumentalisiert wurde und sich auch instrumentalisieren hat lassen, weil Peter einmal nett zu ihm gewesen ist und ihm etwas geschenkt hat. Dass Charlie so echt war, war fast umso schlimmer, hat den Druck, die Spannung und das Leiden während des Lesens aber nur erhöht.

Sal

Sal war eines der Kinder, das dazu kam, als bereits die ersten gestorben waren. In ihrer Heimat lebte sie auf der Straße und gab sich als Junge aus, weswegen Peter sie uach für einen hielt und als erstes Mädchen nach Nimmerland brachte.

Am Anfang fiel es mir schwer, Sal zu vertrauen, besonders, da sich schnell Vertrauen mit Charlie aufbaute. Das wechselte dann aber ziemlich schnell, als ihre Position zu Peter klar wurde und sich zeigte, was für eine emotionale Verbundenheit sie und Jamie teilen, vor allem, weil Jamie vorher immer allein gewesen war, mit sich, seinen Gedanken und seinen Gefühlen. Sal hatte keine Angst davor, ihn damit zu konfrontieren und zu stoppen, ihn dazu zu bringen, auch mal sich selbst zu retten. Im Laufe des Buches werden Charlie, Jamie und sie wie eine kleine Familie, die unzertrennlich wird.

Das Einzige, was wirklich, wirklich schlecht bei Sal und Jamie gelaufen ist, ist der Reveal: Sal und Jamie haben bereits, als Jamie annimmt, dass sie noch ein Junge ist, ein sehr emotionales Band zueinander und verstehen sich sehr gut. Aber als herauskam, dass sie ein Mädchen ist, hat Jamie sich aus dem Nichts plötzlich romantisch für sie interessiert, etwas, das vorher absolut keine Rolle gespielt hat und mir unnötig erschien. Vor allem drückte es der Beziehung wieder den Hetero-Stempel auf und dass beide plötzlich nicht „nur“ Freunde sein können.

Fazit

„Lost Boy“ war für mich von Anfang bis Ende ein Buch, das die ganze Zeit spannend gewesen ist, gruselig und zum Teil auch sehr grausam gewesen ist. Obwohl es definitiv in die Kategorie „Horror“ fällt, war es doch viel mehr als nur Grusel und Grauen, sondern Emotionen auf vielen Ebenen, zwischenmenschlich und auch im eigenen Ich verankert. Damit hatte das Buch viel mehr Wert für mich als lediglich Spannung, sondern mitfühlen mit den Figuren und leiden, wenn sie es tun und hoffen, hoffen, hoffen, trotz des Genres und des Klappentextes, dass alles gut ausgeht.

Wie es dann ausgeht? Schaut am besten selbst rein!

Kennt ihr Horrorbücher, bei denen ihr auch mit den Figuren richtig mitgefühlt habt?

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